Wenn gute Menschen Schlechtes tun

Ich habe zwei ältere Brüder. Das ist sicher, ich kenne die beiden.

Außerdem habe ich ein weiteres älteres Geschwisterkind. Das habe ich erst als junge Erwachsene erfahren. Ob Bruder oder Schwester,  weiß ich nicht. Es wurde „weggemacht“, von einem Arzt, der wahrscheinlich sicher war, damit etwas Hilfreiches zu tun. Meine Mutter fühlte sich damals (als junge Referendarin mit zwei lebhaften Jungs und einem liebevollen,  aber noch sehr schlecht verdienenden Mann) überfordert. Sie wollte sich ein weiteres Kind nicht mit „zumuten“.

Sie war immer für ein „Recht“ auf Abtreibung,  aber sie konnte das Wort Abtreibung nie ohne den Zusatz „so etwas Schreckliches wie eine Abtreibung“ sagen. Zugleich war sie überzeugt,  daß „das“ im ersten Trimester ja „noch nicht so wirklich ein Mensch“ sei. Jedenfalls sagte sie das, aber ich glaube,  eine so kluge Frau wie sie konnte das eigentlich nicht wirklich glauben.

Ich bin eine Verhütungspanne. Nicht abgetrieben,  weil meine Mutter bereits wusste, wie schlimm so eine Prozedur für die Frau ist. 

Ich habe lange Zeit mit dem Gefühl gelebt,  ein Ersatz für mein totes Geschwisterkind zu sein. Das ist natürlich Unsinn,  ich bin ich und kein Ersatz! Aber ich weiß inzwischen,  daß dies irrige Gefühl nicht selten jüngere Geschwister abgetriebener Kinder befällt.

Ich habe meine Mutter als liebevolle, fürsorgliche und unglaublich tüchtige Frau kennengelernt. Mein Vater war ihr darin ebenbürtig. Die Ansicht, Abtreibung sei ein Recht,  macht nicht automatisch zum Finsterling! Die Ansicht ist ein gewaltiger Irrtum,  die Durchführung eine schwere Sünde,  und natürlich gibt es sehr böse Menschen,  die Abtreibungen gutheißen – aber sehr böse Menschen gibt es auch mit scheinbar entgegengesetzter Ansicht, und gute auch mit in dieser Hinsicht falschen Ansichten.  Gerade als Streiter für das unbedingte Lebensrecht müssen wir zwischen Sünder und Sünde unterscheiden und die Sünde hassen,  aber die Sünder lieben (zumal alle Menschen Sünder sind).

Bald werde ich am Marsch für das Leben teilnehmen.  Voraussichtlich werden wieder grölende Menschen diese Veranstaltung stören wollen. Ich bitte alle Lebensrechtler,  diese Menschen nicht als „die Bösen“ anzusehen.  Denken wir lieber daran, daß die meisten von ihnen außerhalb dieser Protestveranstaltung vermutlich umgängliche Leute sind, viele von ihnen liebevolle Eltern, und zwar auch dann, wenn sie nicht nur lebende Kinder haben.

Ich will Abtreibung mit nichts entschuldigen. Aber es liegt nie nur an der Mutter und oft nicht nur am Vater. Bessere Arbeitsbedingungen,  faire Bezahlung,  Krippenplätze, Babyklappen, ein besseres Adoptionsrecht, vor allem ein insgesamt gütigeres soziales Klima hätten nicht nur meinem Geschwisterkind das Leben gerettet. Und besserer Unterricht in Biologie könnte auch nicht schaden. Leben beginnt mit der Befruchtung.

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About Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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1 Response to Wenn gute Menschen Schlechtes tun

  1. Avatar von Bettina Klix Bettina Klix sagt:

    Liebe Claudia, danke für diesen schönen, wichtigen und so ehrlichen Beitrag, in dem Du uns in das Geheimnis Deiner Familie einweihst und Deiner eigenen Existenz. Wie schön, dass Deine Mutter sich für Dich entschied! Gott sei Dank!

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