
Vor 144 Jahren wurde Alfred Hauptmann geboren. Er wurde Neurologe und Psychiater (damals noch keine scharf getrennnten Berufe) und habilitierte 1912 In Freiburg. Er entdeckte, dass Epilepsie mit dem damals als Schlafmittel genutzten Luminal (= Phenobarbitural) behandelbar ist – bis dahin gab es kaum Mittel, um epileptische Krämpfe zu hemmen. (Die krampfhemmende Wirkung von Veronal war zwar bekannt, aber hatte sich wegen der erheblichen Nebenwirkungen nicht durchgesetzt.) Wer einmal gesehen hat, wie jemand urplötzlich umkippt und minutenlang zuckend, bewusstlos und speichelnd am Boden liegt, dann desorientiert aufwacht, kann ermessen, was das für Epileptiker bedeutet!
Wer, wie ich, ohne Medikamente oder bei Übermüdung genau solche Anfälle bekommt und schon mehrmals unter den besorgten Augen von Sanitätern aufgewacht ist – und danach noch mindestens einen Tag lang wie zerschlagen war – ermisst es erst recht.
Im Ersten Weltkrieg diente Hauptmann erst als Truppenarzt, dann, nach einer Verwundung, als Leiter einer Beobachtungsstation für Nervenkranke. Besonders die kriegsbedingten Nervenleiden von Soldaten weckten sein Interesse. Er wurde mit mehreren militärischen Orden ausgezeichnet.
Sein Spezialgebiet Epilepsie galt damals noch als psychische Krankheit. Daraus erklärt sich, dass er Direktor einer psychiatrischen Klinik wurde.
1923 heiratete er die Bankierstochter Selma Mayer. Einige Jahre später wurde er Vater einer Tochter.
1935 wurde ihm wegen seiner jüdischen Eltern (er selbst war evangelisch; Zeit und Grund seiner Konversion kenne ich nicht) die Arbeit als Arzt von einer Horde Barbaren verboten. Was aus seinen Patienten wurde, weiß ich nicht; wahrscheinlich haben viele die Nazis nicht überlebt. Aber erst nach der Reichspogromnacht und der darauf folgenden als „Schutzhaft“ bezeichneten Inhaftierung im KZ Dachau bis zum Dezember 1938 entschloss er sich mit seiner kleinen Familie zur Emigration in die Schweiz. Der Psychiater Oscar Forel gab ihm Unterschlupf in seiner Klinik und wollte ihn einstellen, aber die Schweiz gab Hauptmann keine Arbeitserlaubnis. 1939 konnte er nach London ausreisen und im selben Jahr in die USA. (Die Absurdität der nationalsozialistischen Bürokratie zeigt sich in einem Dokument vom 2. Juli 1940, als Hauptmann schon in der Schweiz war, das seine Übersiedlung über Schweiz und England in die USA genehmigt.)
In Boston arbeitete er als Arzt und Forscher in einer Nervenklinik, konnte aber nicht an seine früheren Erfolge anknüpfen.
Er starb am 5. April 1948, erst 66jährig, wie seine Frau schrieb, an gebrochenem Herzen. Ich vermute, da kam vieles zusammen: Berufsverbot und KZ-Erfahrung, der Gram über das Schicksal seiner Patienten in Deutschland, das Exil und schließlich der Kummer über die Missachtung seines Lebenswerkes hatten ihn wohl zermürbt. Erst nach seinem Tod wurden Selma von den Nazis geraubte Gegenstände aus seiner Kunstsammlung rückerstattet (Quelle).
Seit 1979 wird der Alfred-Hauptmann-Preis für Epilepsieforschung verliehen.
Phenobarbitural wird noch heute als Antiepileptikum verwendet (allerdings zunehmend durch verträglichere Mittel ersetzt); als Schlafmittel, was ja sein ursprünglicher Sinn war, schon lange nicht mehr. Ich bin froh, dass ich mit dem Zeug nie in Berührung gekommen bin, denn es hat viele Nebenwirkungen – unter anderem macht es müde, was ja sein ursprünglicher Sinn war. Aber ich bin Alfred Hauptmann dankbar für seine Arbeit. Er hat erkannt, dass man epileptische Krämpfe medikamentös hemmen kann, und die Epilepsieforschung angestoßen. Ohne seine Erkenntnisse könnte ich nur mit erheblichem Risiko auf eine Leiter steigen, eine Treppe benutzen oder Radfahren.
Tausend Dank, Herr Dr. Hauptmann!


