Kein Mitleid?

„Kein Mitleid“ lese und höre ich bei Unfallberichten. „Kein Mitleid“ ist die allgemein akzeptierte Äußerung, wenn es jemandem übel ergeht, der daran mindestens zum Teil selbst schuld ist.

Ich bemerkte bereits kürzlich, dass die allgemeine Akzeptanz von Häme einen Kulturbruch darstellt. Ja, wenn jemand ermordet wird, ist es unzivilisiert, diese  Tat mit seinen eventuellen moralischen Fehlern zu entschuldigen!

Dieser Kulturbruch wird seit langem vorbereitet und unterstützt durch das ewige „selber schuld,  kein Mitleid“ angesichts von Menschen,  die durch ihren Leichtsinn verletzt wurden. Nun sind viele, wenn nicht die meisten Unfälle mindestens teilweise selbst verschuldet. Aber es ist charakterlos, einem durch eigene Schuld schwer Verletzten „selber schuld“ zuzurufen.

It is not the perfect, but the imperfect, who have need of love. It is when we are wounded by our own hands, or by the hands of others, that love should come to cure us — else what else is love at all?

Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen bedürfen der Liebe. Wenn wir verwundet sind,  sei es durch eigene Hand oder die Hand eines anderen,  sollte Liebe kommen,  um uns zu heilen – was wäre denn sonst Liebe überhaupt?

Oscar Wilde, An Ideal Husband

Mitleid ist kein sentimentales Gefühl. Es bedeutet,  an dem Unglück eines anderen selbst zu leiden, obwohl man nicht direkt betroffen ist. Es bedeutet,  dass man dem in irgendeiner Weise Verletzten genug Sympathie entgegenbringt, um ihm zu helfen oder wenigstens ein freundliches Wort und Gebet zu gönnen. Sympathie, das ist Griechisch, συμπάθεια – Mitgefühl, und συμπαθεῖν – mitleiden. Wenn mir jemand sympathisch ist,  bin ich imstande,  ihm auch im Leid zu begegnen. Aus christlicher Perspektive habe ich auch und gerade dem, der mir nicht im modernen Wortsinn „sympathisch“ ist, liebevoll zu begegnen, wenn er leidet. Auch wenn er sich das durch Leichtsinn selbst eingebrockt hat.

Wer einen Unfallbericht liest oder hört und dabei spontan denkt „Dieser leichtsinnige Verkehrsteilnehmer war aber wirklich selbst schuld“, möge diese Worte einfach mal verschlucken, auch wenn sie stimmen, und für den armen Menschen beten. Vielleicht fällt dem Beter dann auch ein, wann er sich zuletzt aus eigenem Leichtsinn in den Finger geschnitten oder den Kopf gerammt hat.

Es gibt Wahrheiten, die man nur sehr sparsam kundtun sollte. „Selbst schuld“ gehört meistens dazu. Wenn „Kein Mitleid“ auch dazugehört, sollte man das zwar aussprechen,  aber vorzugsweise in der Beichte. Oder, wenn man diese Option nicht hat, vorm Therapeuten.

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About Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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3 Responses to Kein Mitleid?

  1. Avatar von jobo72 jobo72 sagt:

    Sym-pathie setzt Em-pathie voraus. Empathiefähigkeit hat wohl etwas mit dem Gehirn zu tun (Stichwort: Spiegelneuronen). Spiegelneuronen bilden sich v.a. in der frühkindlichen Mutterbeziehung, durch Blickkontakt und geteilten Bezug auf Drittes. Die Zeitdiagnose, dass uns das Mitleid verloren geht, ist so ursächlich mit der fotschreitenden Zerrüttung von klassischer Früherziehung (v.a. durch die Mutter) und Familienbindungen verknüpft. Hinzu kommt die Rahmenerzählung des Neoliberalismus, das jede und jeder ihres bzw. seines (Un)Glücks Schmied sei – und damit am Ende „selbst schuld“. Uns geht dabei verloren, dass wir von Personen und Umständen profitieren bzw. auch davon abhängen, soweit wir in Beziehungsgeflechte und Systeme eingebunden sind. Kurz: Der „Kulturbruch“ ist ein komplexer.

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  2. Avatar von Hans-Jürgen Caspar Hans-Jürgen Caspar sagt:

    Danke für Ihre Ermahnung, die ich teilweise auch auf mich beziehe.

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